leipzigart  KUNSTJOURNAL


Zitat aus der Leipziger Volkszeitung vom 31.01.2004

Matthias Moosdorf: Olympia contra Kultur - worüber definieren wir uns?

Jeder Leipziger - dies als Credo vorweg - wird Olympische Spiele als große Chance sehen, für Region, Stadt und Menschen. Dass bis zu diesem Ziel viel Einsatz nötig ist, ja auch Entbehrungen nötig sind, wird niemand ernsthaft bestreiten. Doch worüber definiert sich eine Gesellschaft? Was sind Atlanta und Montreal heute, Jahre nach Olympia? Was sind sie vor allem im Unterschied zu vorher? Es mag gut sein und politisch helfen, für eine gewisse Zeit ein Nahziel zu haben - inklusive aller damit verbundenen Legitimationen -, aber das wird den Ruf unserer Stadt, ihren herbeigesehnten Wandel zur Sportstadt ebenso wenig begründen wie die Ansiedlung von zwei Automarken Leipzig zur weltbedeutenden Autostadt macht.

Leipzig ist - und dieser Ruf ist einer Entwicklung über mehrere Jahrhunderte gedankt - eine Kulturstadt, eine der ganz wenigen in Deutschland. Zu Zeiten, in denen Geschichte noch mehr war als vor allem die Aufarbeitung deutschen Unrechts, war auch klarer, dass die Kultur unserer Nation ein Geschenk ist, eines um das uns die Welt verehrt und respektiert. Dies konnte auch die bornierteste Politik nicht vergessen machen.

Aber was wird zu gern vergessen: Diese Kultur ist nicht um uns wie Tag und Nacht oder die Jahreszeiten. Sie braucht Engagement, vom Bürger bis zum Macher, in den Verwaltungen und beim Rezipienten. Gerechterweise sollte sie für eine Gesellschaft wie die unsere, die ihre Position in der Welt auch heute noch zu wesentlichen Teilen ihrer kulturellen Identität verdankt, Pflichtaufgabe sein.

Verbrechensprävention, Lebensweisheit, Sinn des Alltags, Wertevermittler, Ideal für kommende Generationen: All dies (und noch viel mehr!) kann nur Kultur leisten. Nun könnte die wiedergefundene Sportbegeisterung eine Facette der kulturellen Äußerungen sein, sich niveau- und respektvoll in die Balance einbringen. Das tut sie aber nicht. Die Prioritätenverschiebungen die - offen oder unmerklich - in den vergangenen Monaten stattgefunden haben, stimmen nachdenklich. Viele Vorhaben reißen gewaltige Löcher in das Budget unserer Stadt, sind überdimensioniert wie zuvor schon Messe und Flughafen oder schlecht geplant wie das Bildermuseum.

Wer auf internationalem Parkett mitspielen will - diese Erkenntnis haben die Leipziger Kulturträger den Herren Tiefensee & Co. voraus - muss seine Aktivitäten dort auch messen lassen. Dazu sind offensichtlich mehr Rücksichten, Können und Sachverstand gefragt als Lächeln in Kameras glauben machen kann. Überhaupt scheint die Wahrnehmung abhanden gekommen zu sein: Wenn wir als Musiker in der ganzen Welt auf unsere Heimatstadt angesprochen werden, dann auf ihre große kulturelle Tradition, die Namen von Bach und Mendelssohn, auf Thomaner, Gewandhaus, Oper. Diese Standortvorteile sind in Jahrhunderten gewachsen, wären zu nutzen, könnten entwickelt werden. Es versteht sich von selbst, dass damit mehr die Inhalte als die infrastrukturellen Hüllen gemeint sind.

Letztere feiern sich mit der anstehenden Bildermuseums-Eröffnung - hoffentlich hat auch jemand daran gedacht, ein so großes Haus dann jährlich mit finanziellen Spielräumen auszustatten. Während andere Häuser wie das Amsterdamer Concertgebouw den Spiegel der musikalischen Welt verkörpern, Tournee-Bestandteil großer Orchester sind, ambitionierte Programme und Zyklen ins Leben rufen, dazu wiederum tausende Touristen anziehen, rotiert beispielsweise das Gewandhaus um sich selbst, ist als Spielstätte für hochrangige Gäste fast bedeutungslos. Es verliert in diesem Punkt selbst das Renommee aus Masur- und DDR-Zeiten. Die Leipziger Oper, einmal Inszenierungsvorbild für Bayreuth, wo steht sie heute? Weiß man in Leipzig, dass Richard Wagner ein Sohn unserer Stadt ist? Eine lebendige Auseinandersetzung mit diesen Potenzen gibt es schlicht nicht. Dem Intendanten werden die Hände gebunden. Stattdessen findet man eine beratungsresistente Selbstverliebtheit. Auch Zustände in Schulen und Kindergärten machen Angst. Einsparungen dort müssen mit einem vielfachen Einsatz später korrigiert werden. Dreitausend Kinder und E1tern, die darauf aufmerksam machen wollten, wurden im Rathaus nicht empfangen. Vielleicht, weil Kinder kein Wahlrecht haben? Das Schulverwaltungsamt kürzt drastisch alle Gelder für schulische Arbeitsgemeinschaften.

Auf der anderen Seite positioniert sich Leipzig als Ausrichter von Sportwettkämpfen scheinbar ohne Ansehen von Sinn und Kosten. Sportvereine werden - egal, ob wettbewerbsfähig - von Sparmaßnahmen weitestgehend ausgenommen, Kulturvereine dürfen für den Sport mitsparen. Sponsoren und Förderer, teilweise jahrelang in der Kulturszene als Unterstützer engagiert, werden mit einer nie gekannten Vehemenz für die neue Windrichtung umworben. Wie danach gewachsene und gern präsentierte Veranstaltungen wie Bachfest, Deutscher Bücherpreis, Euroszene und Jazztage ohne diese oder mit reduzierter Zuwendung weitermachen sollen, bleibt im Verschwommenen der kurzen Sicht.

Ohne die Frage aus Gründen der Polemik verkürzen zu wollen, ohne die Notwendigkeit der Veränderung in Frage zu stellen, wäre es interessant, wie viel wir bereit sind aufzugeben. Vom zukünftigen Gewandhaus- und Opernchef Chailly über die zuständigen Verwaltungen bis zu den Bürgern und Besuchern wird sich jeder selbst darauf eine Antwort geben müssen.

(Matthias Moosdorf, 38 Jahre alt, ist - Mitglied des Leipziger Streichquartetts.
Nach dem Abitur studierte der gebürtige Messestädter Musik. Seit 1988 gastierte der Cellist in 65 Ländern, mehr als 60 CD-Veröffentlichungen erhielten weltweit Preise. Von seinen rund 110 Konzerten pro Jahr finden fünf in Leizig statt. Moosdorf hat einen Lehrauftrag an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater.)


 

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