Läßt die Stadt Leipzig in der Corona-Krise ihre Kultur- und Kreativszene im Stich?
Offener Brief der Initiative zur Rettung der Leipziger Kultur- und Kreativszene an Bürgermeister Jung,
welcher sich erst kürzlich mit den Stimmen der Kreativen ins Amt wählen ließ
Leipzig, 02.04.2020
Herrn Burkhard Jung
Oberbürgermeister der Stadt Leipzig
Neues Rathaus
Martin-Luther-Ring 4 - 6
04109 Leipzig
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
wir wenden uns heute mit diesem offenen Brief an Sie, da wir einerseits begeistert sind von dem unermüdlichen Engagement der Verantwortungsträger in Politik und Administration auf allen Ebe-nen, das in seiner Gesamtheit ein herausragendes Krisenmanagement darstellt, andererseits jedoch bedrohliche Lücken in den staatlichen Hilfsprogrammen feststellen müssen, die sich insbesondere negativ bis existenzgefährdend auf die Leipziger Kultur- und Kreativszene auswirken werden, und deshalb dringend geschlossen werden müssen.
Vor zwei Wochen haben wir gemeinsam mit der Kulturbürgermeisterin und dem Amt für Wirtschafts-förderung einen Krisenstab etabliert, um die Zusammenarbeit zwischen der Stadtverwaltung und den Kulturkreativen bei der Bewältigung der Corona-Krise zu organisieren. Dabei geht es uns nicht darum, als Bittsteller oder Fordernde aufzutreten, sondern das Ziel ist, gemeinsam die gigantischen Herausforderungen zu meistern. Wir sehen unsere Aufgabe in erster Linie darin, die konkrete Situation und die Bedarfe der Leipziger Kultur- und Kreativszene in die Beratungen einzubringen und gemeinsam nach passgenauen Lösungen zu suchen.
Waren wir nach den ersten beiden Treffen noch sehr zuversichtlich in Bezug auf die Zielstellungen, Handlungsweisen und Entscheidungen von Stadt Leipzig und Freistaat Sachsen, macht sich seit knapp einer Woche zunehmend Enttäuschung und Existenzangst breit. Warum?
Zu Beginn der Krise überboten sich viele Entscheidungsträger aller politischen Ebenen darin, Bekundungen abzugeben, alles zu unternehmen, damit niemand in der Corona-Krise unter die Räder kommt, und nicht zuletzt die Künstler*innen und Soloselbständigen in der Kreativwirtschaft sowie die Kulturbetriebe zu schützen. Noch vor einer Woche war eine Soforthilfe in Leipzig geplant, wie sie ähnlich in vielen Städten Deutschlands (z.B. in Dresden) zusätzlich zu anderen Hilfen gewährt wird.
Wie wir überraschenderweise der Samstagsausgabe der Leipziger Volkszeitung (28.03.2020) entnehmen mussten, soll diese Soforthilfe nun - unter Verweis auf die zur Verfügung stehenden Bundesmittel - entfallen.
Diese Entscheidung wird in der Leipziger Kultur- und Kreativszene fatale Folgen nach sich ziehen, denn leider ist der Soforthilfe-Zuschuss des Bundes, welcher seit Montag (30.03.2020) abgerufen werden kann, für Solo-Unternehmer*innen nur bedingt hilfreich, da trotz massiver coronabedingter Umsatzverluste keine Unternehmergehälter geltend gemacht werden können. Den Kultur- und Krea-tivschaffenden bleibt zur Absicherung ihrer Ausgaben somit lediglich die Corona-Grundversorgung (ALG II) als Option. Da laufende Ausgaben wie z.B. Altersvorsorge, Krankenversicherung u.Ä. trotz der Umsatzausfälle weiterhin erbracht werden müssen, droht zwangsläufig ein massiver, flächendeckender Liquiditätsnotstand. Wenn man dazu noch die Auszahlungsfrist der Bundesagentur für Arbeit von mindestens 8 Wochen hinzuzieht, wird klar, vor welchem existenzbedrohenden Problem Soloselbständige in Leipzig stehen.
Vor diesem Hintergrund bitten wir Sie, Ihre Entscheidung zu überdenken, und ein Leipziger Soforthil-feprogramm für Solo-Unternehmer*innen als Ergänzung zu den Bundes- und Landesprogrammen aufzulegen.
Aber nicht nur die Soloselbstständigen, Freiberufler*innen und Kleinstunternehmen stehen vor der Herausforderung coronabedingter Umsatzausfälle und unzureichender Hilfestellungen durch Bund, Land und Kommune. Insbesondere Unternehmen ab 10 Mitarbeiter*innen, zu denen zahlreiche Leipziger Kreativwirtschaftsunternehmen sowie auch einige Kulturbetriebe und Musikspielstätten gehören, haben keine Möglichkeit, dringend benötigten Zuschüsse in Anspruch zu nehmen. Unter-nehmen, die das Bindeglied zwischen Soloselbstständigen und größeren mittelständischen Unter-nehmen darstellen und die u.a. Soloselbstständigen und Freiberuflern Aufträge verschaffen, machen den Großteil der Wirtschaft vorrangig in den neuen Bundesländern aus. Diesen Unternehmen stehen in Sachsen derzeit maximal Kredite zur Verfügung, die die Liquiditätsproblematik in eine (ungewisse) Zukunft verlagern. Hinzu kommt, dass sich bei Rückfragen oft herausstellt, dass das Problem Corona bei vielen Banken noch nicht angekommen ist und die Kreditvergabe an den 10% Eigenbürgschaft scheitert.
Ein Blick über den sächsischen Tellerrand hinaus zeigt, dass das Land Sachsen das einzige Bundesland im Osten Deutschlands ist, welches in Bezug auf den Unterstützungsbedarf von Unternehmen ab 10 Mitarbeiter*innen auf Bundeshilfen verweist und sie damit in Bezug auf Zuschüsse im Regen stehen lässt. Im Gegensatz dazu unterstützen die Länder Brandenburg und Thüringen Unternehmen bis 50 Mitarbeitenden mit Soforthilfen bis zu 30.000 €, das Land Sachsen-Anhalt mit bis zu 25.000 €. Das Fehlen eines solchen Programms in Sachsen, resp. Leipzig, ist aus unserer Sicht ein unverantwortba-rer Zustand, da er die für den Standort Leipzig so außerordentlich wichtige Infrastruktur im Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft existentiell gefährdet.
Wir bitten Sie, im Rahmen Ihrer Möglichkeiten Einfluss zu nehmen und mit Blick auf die notleidende Leipziger Wirtschaft mit lauter Stimme in Richtung Dresden, aber auch in Ihrer Funktion als Präsident des Deutschen Städtetages nochmals in Richtung Bund zu sprechen und auf diese gefährliche Lücke in den bisherigen Hilfsprogrammen hinzuweisen. Wir bitten Sie gleichermaßen, für Leipzig zu prüfen, welche Unterstützungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene realisierbar sind.
Sehr geehrter Herr Jung, im Wahlkampf haben Sie oft betont, welche Bedeutung die kleinteilige und unabhängige freie Kultur- und Kreativszene für das Wirtschaftsgefüge und das besondere Lebensgefühl in Leipzig hat. Zahlreiche Kultur- und Kreativschaffende haben Sie unterstützt, weil sie diese Sicht auf unsere Stadt teilen. Heute nehmen wir Sie beim Wort - Bitte helfen Sie uns! Jetzt!
Mit freundlichen Grüßen
Maria Köhler / Kreatives Leipzig e.V.
Steffen Kache / LiveKommbinat Leipzig e.V.
Falk Elstermann / Initiative Leipzig + Kultur e.V.
Anlage: Beispiele für Soforthilfeprogramme in Deutschland (Auszug)
Hilfsprogramme der Länder für KMU, geordnet nach Anzahl der Arbeitnehmer
Brandenburg Soforthilfe Corona Brandenburg
1 - 5 AN 9.000
6 - 15 AN 15.000
16 - 50 AN 30.000
Mecklenburg-VP Liquiditätshilfen für Freiberufler und KMU (Stand 31.03.2020)
Kleinstbetriebe und Freiberufler 20.000
KMU 200.000
Sachsen-Anhalt Sachsen-Anhalt ZUKUNFT; Volumen: 150 Mio. EUR
1 - 5 AN 9.000
6 - 10 AN 15.000
11 - 25 AN 20.000
26 - 50 AN 25.000
Thüringen Soforthilfeprogramm Corona 2020
1 - 5 AN 5.000
6 - 10 AN 10.000
11 - 25 AN 20.000
26 - 50 AN 30.000
Soforthilfen, die auch für Soloselbständige wirksam sind
Dresden 1.000
https://www.dresden.de/de/wirtschaft/wirtschaftsservice/soforthilfe-corona.php
Hamburg 2.500
https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/13737062/unterstuetzung-fuer-den-sport/
Hannover 3.000
https://www.ifbhh.de/foerderprogramm/hcs
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