leipzigart  KUNSTJOURNAL



globus '06 - 15. Festival für Figuren-, Objekt- und Anderes Theater
Das Jubiläum vom 1. bis zum 27. Oktober 2006

Zitat aus der Leipziger Volkszeitung vom 28.10.2006:

Er ist elastisch, der neue Mensch
Mit "Katzgraben: Umschulung leicht gemacht" neigt sich das Figurentheater-Festival dem Ende zu

Von Mathias Wöbking

Nun ist er also doch auf die Welt gekommen, der neue Mensch. Der epochale Moment ereignete sich Donnerstagabend in der naTo, als das 15. Leipziger Festival für Figuren-, Objekt- und Anderes Theater auf sein Finale zuschritt.
Zuerst handelt es sich bei dem neuen Menschen noch um eine Handpuppe aus der alten Welt, um einen heiligen König mit dem Namen Balthasar. Aber dann verwandelt er sich in einen Parteisekretär und das geht so: Die Puppenspieler Jochen Menzel und Melanie Sowa stülpen ihm einen Bodybuilder-Körper über (mit einem für die Puppenproportionen ziemlich großen Penis) und geben ihm einen rheinländischen Akzent, dem neuen Menschen. Darauf erhält er einen großen, neuen Kopf, einen Schnauzbart und seine Gliedmaßen werden zu zwei lang gezogenen Damenstrumpfhosen.
Ein elastischer neuer Mensch. Und ein flexibler: Weil er Arme und Beine schon länger nicht mehr gebraucht hat, schneidet er sie ab, rupft sich kurzerhand noch das Hirn aus dem Schädel und endet in einem Erdbeer-Einmachglas. Fürs erste.
Mit "Katzgraben: Umschulung leicht gemacht" demonstrierten die Berliner Puppenspieler Menzel und Sowa am vorletzten Abend des Figurentheater-Festivals noch einmal in schwindelerregender Weise, wie viele Ebenen das Genre ermöglicht: Erstens sind da zwei Genossen der 50er Jahre, die 70 Umschüler zu Kulturamtsleitern und Programmgestaltern ummodeln sollen. Zweitens erfüllen sie die Aufgabe mit Hilfe eines Puppenspiels, in dem das damalige Berliner Ensemble zum Leben erwacht: Erwin Geschonneck versucht sein Glück bei Helene Weigel, Bertolt Brecht zutzelt Weißwürste aus und inszeniert nebenher Erwin Strittmatters "Katzgraben". Drittens zanken sich Großbauern, Kleinbauern und Bürokraten in dem brandenburgischen Dorf dieses Namens um eine Bodenreform.
Wenn das kein dialektisches Theater ist. Die Puppen gehören darüber hinaus in ein römisches Historiendrama: Brecht ist ein Wanderprediger, ein Gehilfe Legionär, und Jesus höchstselbst verliest bürokratische Anordnungen. Aber irgendwie gelingt es den zwei Menschen mit ihren vier Händen, das köstliche Kuddelmuddel zu ordnen.
Unter den 20 Aufführungen an zehn Spielorten des Festivals, das gestern Nacht zu Ende ging, war "Katzgraben" eines von drei Stücken, das sich an Erwachsene richtete. Mit jeweils etwa 100 Besuchern so gut wie ausverkauft waren nach Angabe von Festivalleiter Jost Braun sowohl diese drei als auch die Kindervorstellungen. Dennoch sei der Theaterreigen "eher ein Zuschussgeschäft", sagt er. Gerade das Kinderprogramm müsse zu moderaten Preisen angeboten werden, um Anklang zu finden.
Das mag daran liegen, dass vielleicht jene neue Epoche angebrochen ist, in deren verheißungsvoller Zukunft die Genossen am Ende der Katzgraben-Adaption schwelgen. "In 50 Jahren schon werden wir eine Gesellschaft haben, in der wir mehr Zeit für uns selbst haben", schwärmt der Umschulungsleiter. Dann werde man auch das Gehirn des neuen Menschen aus seinem Einmachglas befreien. Ob die Erdbeeren wohl noch gut sind?

Anmerkung der Redaktion:
Nach Rückfrage bei der Festivalleitung erfuhren wir, daß die Vorstellungen - speziell auch des Kinderprogramms - sehr wohl eine große Nachfrage und hervorragenden Anklang erfuhren und oft überfüllt waren. Es mußten erneut sogar zusätzliche Vorstellungen angesetzt werden, um alle Interessenten unterbringen zu können. Der Festivalleiter Jost Braun hat nicht festgestellt daß moderate Preise nötig seien, um "Anklang" zu finden, sondern um auch den sozial schwachen Theaterfans den Zutritt zu den gefragten Angeboten zu ermöglichen - allein die überwältigende Nachfrage nach qualitativ überzeugenden und vergnüglichen Theaterangeboten negiert die irrtitierende Darstellung in der LVZ.
Von dem überzeugenden "Anklang" des Festivalprogramms konnten sich die am Abend des 26. Oktober anwesenden Journalisten und auch alle anderen Gäste bei den vielen weiteren Vorstellungen anschaulich und zweifelsfrei selbst überzeugen, die Begeisterung des Publikums - Ovationen, Beifall, Trampeln und Bravorufe - hat ein klares Zeichen gesetzt.
Ein Problem, welches bei der langjährigen intensiven Zusammenarbeit mit den Kindereinrichtungen trotzdem immer deutlicher zutage tritt, sei vielmehr die Tatsache, daß soziale Probleme in den Familien infolge von Arbeitslosigkeit und mangelnden sozialen, kultur- und bildungspolitischen Engagements der Kommune sowie des Staates spürbar negative Auswirkungen auf die Förderung von Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen hat. Öffentliche Stellen ziehen sich mehr und mehr aus der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung zurück, bürgerliches Engagement muß zunehmend ausgleichen und retten. Das sogenannte "Zuschußgeschäft" ist also vielmehr eine unabdingbare Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Im Falle des Festivals läßt sich die Stadt Leipzig sozusagen alles schenken, ohne sich dafür zu bedanken. Die Stadt Leipzig unterstützt weder die Produktion neuer Inszenierungen noch die Veranstaltung von Theatervorstellungen - und die Subventienierung resp. die Investition im Hinblick auf kompatible Eintrittspreise gerade für die jüngsten Bürger dieser Stadt überläßt sie ebenfalls den Bürgern selbst. Die total verschuldete Stadt Berlin hingegen unterstützt beispielsweise über den Jugendkulturservice umfassend sämtliche Theaterbesuche von Kindergarten- und Schülergruppen in Veranstaltungshäusern durch Ausgleich einer Eintrittspreisermäßigung. Sie fördert zudem mit finanziellen Zuschüssen die Produktion neuer Inszenierungen der freien Theatergruppen.


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