leipzigart  KUNSTJOURNAL



LEIPZIGER SPAZIERGANG
Kulturgeschichten

Jost Braun


Beim Spazieren durch den nördlich des Zentrums gelegenen Leipziger Stadtbezirk Gohlis lässt sich in der Schorlemmerstraße - zuvor bis 1986 Fritzschestraße - an der Umzäunung des Grundstücks Nr. 8 eine Gedenktafel finden, die an Jan Tschichold erinnert. Der Typograph, Kalligraph, Fachbuchautor und Lehrer wohnte dort von 1922 bis 1924.

Jan Tschichold wurde am 2. April 1902 in Leipzig geboren, begann 1919 an der Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in der Schriftklasse von Hermann Delitsch zu studieren. Nach einem Zwischenaufenthalt an der Kunstgewerbeschule Dresden wechselte Tschichold wieder nach Leipzig in die Meisterklasse „Buchgewerbe, Illustration, freie und angewandte Graphik“ des Direktors Walter Tiemann.
Tschichold sympathisierte zunächst mit neuen künstlerischen Strömungen aus Russland wie dem Konstruktivismus, setze sich ab 1924 intensiv mit der Bauhaus-Bewegung auseinander und wurde nicht zuletzt mit seinem gleichnamigen Aufsatz (1925) zum wichtigsten Theoretiker der Elementaren Typographie, die als zeitgemäße, zweckbetonte, künstlerisch anspruchsvolle Gestaltung verstanden wurde.
Schon 1933 wurde Tschichold seines Amtes an der Münchner Meisterschule für Deutschlands Buchdrucker enthoben und wegen seiner „bolschewistischen und entarteten Typographie“ mit seiner Gattin Edith verhaftet. Nach vierwöchiger Schutzhaft konnten die Tschicholds mit ihrem Sohn Peter in die Schweiz emigrieren.
Ebenso vehement, wie Tschichold einst für die Neue Typographie einstand, lehnte er sie Ende der 30er Jahre ab und wendete sich einem klassischen Stil im Sinne britischer Buchgestaltung zu.
Im Jahr 1965 erhielt Jan Tschichold den Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig. 1967 kam die von ihm entwickelte Sabon auf den Markt, eine Antiqua-Schrift, deren Erscheinungsbild in allen der zu dieser Zeit gebräuchlichen Bleisatzvarianten – Handsatz, Linotype (Zeilensatz) und Monotype (Maschinensatz) - unbeeinflusst von satztechnischen Unterschieden gleich aussehen konnte und sich funktionell sowie technisch für unterschiedliche Papiersorten und hohe Druckgeschwindigkeiten eignet.
Jan Tschichold starb am 11. August 1974 in Locarno. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig erhielt im Jahr 2019 den Nachlass Tschicholds von dessen Erben als Schenkung.

Im Haus Nr. 8 wohnten noch weitere interessante Persönlichkeiten. Der Wirtschaftshistoriker und Spezialist für italienische Wirtschafts- und Kulturgeschichte Alfred Doren, Professor an der Universität Leipzig, deutsch-national gesinnt freiwillig als Soldat im 1. Weltkrieg, wurde als Jude 1933 zwangsemeritiert und starb 1934 in Berlin. Sigmund Fein, erfolgreicher Rauchwarenhändler, seine Frau Erna und die Tochter Marianne erfuhren nach den bereits erniedrigenden Einschränkungen ab 1933 mit der Reichskristallnacht am 9. November 1938 die ungehemmte Boshaftigkeit und Barbarei der Machthaber. Sigmund Fein wurde verhaftet, gefoltert und in das KZ Buchenwald gebracht. Im Dezember kam er als kranker, gebrochener Mann zurück, musste sich an der Zwangsarisierung seines Geschäfts beteiligen. Die Familie konnte noch in die USA emigrieren.

Von 1911 bis 1912 bewohnte Ulrich Steindorff (Pseudonym Ulrich S. Carrington) eine günstige Dachwohnung im Haus Nr. 8. Dessen Vater, der Ägyptologe und Geheime Hofrat Prof. Dr. Georg Steindorff, wohnte damals nebenan im Haus Nr. 10 – auch noch in den Jahren, als Jan Tschichold unter dem Namen Johannes Tzschichhold seinen Wohnsitz im Nachbarhaus hatte. Ulrich Steindorff studierte Jura, Philosophie und Nationalökonomie, war Journalist, Schauspieler, schrieb expressionistische Dramen, veröffentlichte Gedichte, übersetzte Mark Twain für deutsche Leser und arbeitete mit an Drehbüchern für Hollywood. 1933 emigrierte Ulrich Steindorff in die USA.
Obgleich anfangs das internationale Renommee den Vater Georg Steindorff einigermaßen vor Verfolgung schützte, verschlechterten sich ab etwa 1935 seine Arbeits- und Lebensumstände spürbar, seine Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt, die Lehrtätigkeit an der Universität Leipzig untersagt, im Jahr 1938 der Austritt aus der Sächsischen Akademie erzwungen. Im März 1939 emigrierte er mit seiner Familie in die USA. Seit 2008 ist das Ägyptische Museum der Universität Leipzig, basierend auf der Sammlung, die Steindorff vor seiner Emigration verkaufen musste, nach Georg Steindorff benannt.

Mit Blick auf die Buch- und Messestadt Leipzig verdient ein weiterer ehemaliger Hausbewohner Erwähnung. Raimund Köhler wohnte mit seiner Frau Emmy von 1929 bis 1956 in der Schorlemmerstraße 8. Seit 1917 in der Leitung der Leipziger Messe, etablierte er gemeinsam mit dem Industriellen Philipp Rosenthal das Doppel-M als Messesignet. Eine Figurengruppe über dem Eingang zum Petershof in der Petersstraße stellt neben weiteren Persönlichkeiten Raimund Köhler mit dem Doppel-M-Signet in der Hand, den Bankier Hans Kroch und den Oberbürgermeister Karl Rothe dar. Mit der Pogromnacht 1938 wurden diese Figuren entfernt, weil sich unter den Dargestellten der Bankier Hans Kroch befand.

Hans Kroch, 1923 Gründungs- und Aufsichtsratsmitglied der Leipziger Messe- und Ausstellungs-AG, prägte mit dem 1928 bezogenen Neubau seines von German Bestelmeyer entworfenen Bankhauses am Augustusplatz maßgeblich den Charakter des Leipziger Stadtbildes und finanzierte 1929–1930 die nach den Vorschlägen der Berliner Architekten Paul Mebes und Paul Emmerich im Stil der klassischen Moderne errichtete und als Krochsiedlung bekannte soziale Wohnanlage in Leipzig-Gohlis mit 1018 Wohnungen, welche jeweils mit Zentralheizung und Warmwasseranschluss, Bad, Loggia und großen Fenstern mit Blick auf Grünflächen ausgestattet sind. Der Plan, ein vielfach größeres Wohngebiet mit 4500 Wohnungen für rund 15000 Bewohner und damit die größte soziale Wohnstadt der Weimarer Republik zu errichten, scheiterte an der Weltwirtschaftskrise und der Machtübernahme der Nationalsozialisten.
Hans Kroch wurde nach der Pogromnacht verhaftet, ins KZ Buchenwald und nach Sachsenhausen gebracht und dann freigelassen, nachdem er eine Verzichtserklärung auf das Gesellschaftsvermögen seines Bankhauses abgeben hatte. Danach gelang ihm mit seinen Kindern die Flucht über Amsterdam nach Argentinien und schließlich die Auswanderung nach Israel. Seiner Frau gelang die Flucht nicht, sie wurde 1940 im KZ Ravensbrück ermordet.
In Leipzigs erstem Hochhaus, dem einstigen Sitz der Privatbank Kroch, ist seit 2009 das Ägyptische Museum Georg Steindorff der Universität Leipzig untergebracht.

Nach aufgefundenen Fotos sowie einer noch vorhandenen und wiederentdeckten Figur wurden die 1938 vom Petershof entfernten Bildwerke durch den Bildhauer Markus Gläser neu geschaffen und 1995 wieder aufgestellt.
Vor der Erbauung des Petershofs stand dort der Gasthof Zum blauen Engel, in dem 1710 Johann Friedrich Böttcher erstmals in Leipzig sein Porzellan ausstellte und 1785 Friedrich Schiller Quartier bezog, bevor er in einem Bauernhaus im ehemaligen Dorf Gohlis nördlich von Leipzig seine Ode An die Freude verfasste.

Das Doppelte M wurde vom Leipziger Graphiker Erich Gruner im Auftrag der Leipziger Messe entworfen und erstmals zur Herbstmesse 1917 präsentiert. Die übereinander angeordneten Versalien stehen für „Muster-Messe“ und wurden international bekannt. Gruner studierte von 1900 bis 1905 an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig, war später an der Gestaltung des Festumzugs zur 500-Jahr-Feier der Universität Leipzig sowie an der künstlerischen Gestaltung der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik im Jahr 1914 (Bugra) in Leipzig beteiligt. 1931 wurde er Leiter der neu errichteten Leipziger Kunstgewerbeschule, an der damit auch erstmals in Deutschland das Lehrfach Bühnenbildgestaltung eingeführt wurde.


Der komplette Artikel mit vielen Abbildungen erschien in der 31. Jahresschrift für Künstlerbücher und Handpressendrucke, Edition Lebensretter 2022.
Informationen siehe: www.artists-books.de/jahresschriften.html


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