leipzigart  KUNSTJOURNAL




WOLFGANG MATTHEUER

Bratsker Landschaft

Vor dreißig Jahren war der 1927 in Reichenbach im Vogtland geborene gelernte Lithograph Wolfgang Mattheuer Student der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Mattheuer, später Assistent, Dozent und von 1965 bis 1974 Professor an dieser Schule, gehört heute zu den profiliertesten und populärsten Künstlern unseres Landes. Seit 1954 beteiligte er sich an allen wesentlichen Ausstellungen in der DDR. Viele seiner Bilder wurden zum Gegenstand interessanter Diskussionen, wie das »Schwebende Liebespaar« (1970), »Hinter den sieben Bergen« (1973) oder »Übermütige Sisyphos« (1976). Über Mattheuers Bilder wird wie von etwas Selbstverständlichem gesprochen, das zu unserem Leben gehört, weil Mattheuer den Problemen unserer Zeit, den alltäglichen und den großen, auf der Spur ist und sie in einer klaren, eindringlichen Bildsprache zu formulieren versteht. Als in diesem Jahr in zwei Berliner Theaterinszenierungen - in den »Entwicklungen« am Berliner Ensemble und in »Trampelpfad« von Jürgen Groß am Deutschen Theater - Mattheuers »Ausgezeichnete« (1973/74) als szenischer Einfall optisch zitiert wurde, hatten sich die jeweiligen Regisseure darauf verlassen können, daß jeder im Zuschauerraum das Bild erkennen, das Zitat verstehen würde, und ihre Annahme erwies sich als richtig.

Doch was sich so einfach, so deutlich dem Betrachter bietet, muß, kann nicht immer »Liebe auf den ersten Blick« erzeugen, erfordert Nachdenken und Auseinandersetzung mit dem inhaltlichen Anliegen, erfordert die Bereitschaft, sich von Denk- und Sehklischees zu befreien. Was Kindern offensichtlich leichtfällt, viele Erwachsene müssen die Fähigkeit, in Bildern zu »lesen«, erst wieder erlernen. Mattheuers Arbeiten haben uns, die wir uns so gern mit fertigen, eindeutigen künstlerischen Produkten begnügen, sicherlich dabei geholfen, uns wieder neugierig einem Bild zu nähern, uns in ein unbekanntes und zugleich vertrautes Abenteuer zu stürzen, das Denkprozesse auslöst und uns Erkenntnisse und kaum erwartete Schönheiten erschließt.

Daß ich Mattheuers »Bratsker Landschaft« (1967) auswähle, hat einen besonderen Grund. Als ich dieses Bild entdeckte, handelte es sich um einen jener seltenen Glücksfälle, wo sich die Empfindungen, Gedanken und Erkenntnisse des Autors völlig mit den eigenen trafen. Die 60er Jahre, die mit Gagarins Weltraumflug und Walentina Tereschkowa als erster Frau im All begannen, waren für mich die Jahre der persönlichen Inbesitznahme, der intensiven Begegnungen mit der Sowjetunion. Das geschah über die Literatur, über Filme wie »Turksib«, »Swanetien« oder »Die Kraniche ziehen«, das geschah, indem ich quer durch Armenien, Grusinien und Sibirien reiste. Vergangenheit und Gegenwart dieses Landes, seine stürmische wissenschaftliche und industrielle Entwicklung, die Kraft und die Lebenshaltung der Menschen, alles, was ich über die Sowjetunion erfahren, was ich an Ort und Stelle erlebt hatte, fand ich, auf knappste Formel gebracht, auf Mattheuers Bild wieder. Da ist die Weite der Landschaft, großzügig, dynamisch komponiert, sind Menschen, Natur und die durch das Werk der Menschen veränderte Natur dialektisch aufeinander bezogen, sind Spiel und Arbeit als schöpferische, produktive Einheit miteinander verbunden, wird konkret und heiter Auskunft gegeben über Gegenwärtiges, das in die Zukunft weist und die Dimensionen kühner Vorstöße in bisher unerschlossene Bereiche ahnen läßt. Die »Bratsker Landschaft« wurde häufig und ausführlich interpretiert; für mich ist sie die Summe eigener Erkundungen in Sachen Sowjetunion und ganz bestimmt auch die Summe eigener Lebenserfahrungen, die keinen anderen Schluß zulassen als den, daß wir - ohne Verlust an Menschlichkeit - die Welt, in der wir leben, erhalten, verändern und weiterentwickeln müssen.

Anne Braun / Wochenpost 41/79

Der Beitrag stammt aus der in Vorbereitung befindlichen Textsammlung des Verlages Edition Lebensretter "Anne Braun: Theater und Kunst in der DDR" mit Künstlerporträts, Gesprächen, Rezensionen


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