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KUNSTJOURNAL
POCHOIR - GRAFFITI.
Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in der Gründungszeit der Internationalen Ausstellung für Künstlerbücher und Handpressendrucke, mit der Herausgabe der ersten Jahresschriften für Künstlerbücher und Handpressendrucke sowie mit den Bemühungen um die Entwicklung einer lebendigen Figurentheaterszene in Leipzig, bei der sich nicht zuletzt das freie Theater im Globus und das Internationale Festival für Figuren-, Objekt- und Anderes Theater manifestierten, wurden auch eine Reihe spannender Kunstaktionen im öffentlichen Raum initiiert, die bis heute Spuren hinterlassen und inzwischen mehrere Generationen von Street-Art-Aktivisten beeinflußt haben.
Nachdem er schon 1991 in Leipzig mit Kunstinterventionen begann, arbeitete Gerard Zlotykamien 1992 in der Globus Galerie als "artist in residence" und schuf neben Graffiti-Bildern auf mobilen Bildträgern rund einhundert öffentliche "éphémères" auf Wänden im gesamten Leipziger Stadtgebiet. Zlotykamien beteiligte sich zudem 1993 an der Aktion der Globus Galerie im Berliner Stadtgebiet Alt-Treptow. Seine Arbeiten zeichnen sich insbesondere dadurch aus, daß sie den jeweiligen Bilduntergrund - häufig verfallene Fassadenteile, bröckelnden Putz, zugemauerte Fensteröffnungen, von Granatsplittern zerstörte Mauern - außerordentlich sensibel in die Komposition einbinden und das Vergängliche der Zeichnungen und auch des Treibens auf Erden auf philosophische Art sinnfällig machen.
Während der Kunstaktionen entstanden neben kalkuliert vergänglicher Straßenkunst auch Graffiti-Künstlerbücher sowie Bilder auf transportablen Untergründen, die für Ausstellungszwecke und für Sammler interessant sind. Begleitend entstanden Bild- und Video-Dokumentationen über jene spannenden Kunstwerke im öffentlichen Raum, welche den ungeliebten stümperhaft-pubertären "Gestaltungen" sowie wilder Plakatierung an den Wänden der Stadt ein ästhetisches Gegenbild boten - auf provokante, harmonische oder auch nachdenkliche Weise.
Besonders nachhaltige Wirkung hatten Straßenkunstaktionen der Globus Galerie mit Künstlern des In- und Auslandes in den Jahren 1990 bis 1993 sowie in Folgejahren in Leipzig, Berlin und Kronach.
Die künstlerischen Interventionen jener Aktionen - besonders 1991 in Leipzig (4. Leipziger Bildermesse & Kunstaktion für Leipzig im gesamten Stadtgebiet und galerie éphémère an der Universität Leipzig) sowie 1993 in Berlin-Treptow (Street Art Treptow 1993) - basierten in erster Linie auf der originalgraphischen Schablonentechnik, welche in variabler Weise eine Wiederholung beziehungsweise Vervielfältigung zuvor entworfener Motive sowie die Kombination unterschiedlicher Motive und eine jeweilige Anpassung an den Bildträger ermöglicht. Hinzu kamen künstlerische Graffiti-Gestaltungen, also frei gesprühte Bildwerke.
Die Aktivitäten konzentrierten sich jeweils auf drei Einsatzbereiche, die sich auch untereinander ergänzten: einen öffentlichen, kommunal legitimierten Außeneinsatz, kunstpädagogische Kooperationen mit diversen Schulen und einen individuellen Bereich in Verantwortung der einzelnen Künstler.
Während die damaligen Straßenkunstaktionen überraschende und einprägsame Erlebnisse provozierten - besonders in den ehemaligen DDR-Städten- sind heute neue ästhetisch oder auch politisch motivierte Kunst-Interventionen im öffentlichen Raum immer wieder zu entdecken.
Anfang das Jahres 2012 tauchte sogar ein Leipziger Pochoir des französischen Künstlers Xavier Prou alias Blek le Rat auf, welches unter einer wild geklebten Plakatschicht vor Verfall und Zerstörung geschützt blieb. Es handelt sich um das Motiv Frau mit Kind in Anlehnung an eine Vorlage aus dem Gemälde Madonna der Pilger des italienischen Barockmalers Michelangelo Merisi da Caravaggio und entstand einst im Kontext mit der Kunstaktion für Leipzig 1991 zur 4. Leipziger Bildermesse und der Arbeit an der galerie éphémère für das Seminargebäude der Universität Leipzig. Nun steht die „Leipziger Madonna“ auf der Liste sächsischer Denkmäler. Blek le Rat widmete dieses Graffiti seiner großen Liebe: einer Frau namens Sybille, welche er damals in Leipzig kennenlernte und die seitdem seine Ehefrau ist. Nach Aussagen des Künstlers gebe es nirgendwo auf der Welt ältere Spuren seiner Kunst. Entdeckt wurde die "Madonna" von einer Leipzigerin, die 1991 als siebenjähriges Schulkind Zeugin der Straßenkunstaktionen war.
Jost Braun, 2013
Der Beitrag ist mit zahlreichen Abbildungen in der 22. Jahreschrift für Künstlerbücher und Handpressendrucke 2013 veröffentlicht (www.artists-books.de/jahresschriften.html)
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