leipzigart KUNSTJOURNAL
9. INTERNATIONALE
AUSSTELLUNG FÜR KÜNSTLERBÜCHER UND
HANDPRESSENDRUCKE
in Frankfurt am Main mit einmaliger Sonderausstellung
DER KÜNSTLER UND DAS BUCH IN RUSSLAND 1910-1930
leipzigart-Tip: Der ausführliche Katalog mit vielen Abbildungen und redaktionellen Beiträgen (45 DM / mit 2 Originalgrafiken) ist erhältlich bei EDITION LEBENSRETTER, Schlößchenweg 1, 04155 Leipzig, Fax 0341-9122011
Erast Kusnezow
DER KÜNSTLER UND DAS BUCH IN RUSSLAND 1910-1930...
Die Liebe, Bücher zu sammeln, war in Rußland von alters her weit verbreitet. Das war in der Mentalität des russischen Menschen begründet. Die Verehrung des Wortes, und insbesondere des im Text geprägten - geschriebenen oder gedruckten Wortes, übertrug sich auf das Buch wie auf einen materiellen Träger, der somit eine sakrale Erscheinung erlangte.
Die ersten bedeutenden russischen Privatsammlungen an Büchern sind uns seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Sie gehörten überwiegend den Vertretern der Hocharistokratie, wie z. B. dem Fürsten Andrej Kurbski, einem Feldherrn und Literaten, dem politischen Opponenten Iwan des Schrecklichen. Die Blüte der Bibliophilie, also das Sammeln seltener und wertvoller Bücher, fällt in das Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts. Gerade damals bildeten sich viele Sammlungen, die teilweise in der Folgezeit zum Grundstock großer nationaler Bibliotheken wurden. Die Sammeltätigkeit beschränkte sich nicht nur auf russische Bücher. So konnte man in der Bibliothek des Grafen Dmitri Buturlin, die während des Krieges von 1812 gegen Napoleon beim Brand vernichtet wurde, neben vielem anderen bis zu 6000 europäische Inkunabeln finden. Mit der Zeit begann sich der soziale Kreis der Buchsammler zu erweitern. Bücher sammelten jetzt auch die Kaufleute und Industriellen sowie Vertreter der intellektueller Berufe, überwiegend Gelehrte.
Anfang des 20. Jahrhunderts war der antiquarische Buchmarkt umfangreich und aktiv, und das nicht nur in den beiden Hauptstädten St. Petersburg und Moskau, sondern auch in der Provinz. Es gab eine immense Zahl von spezialisierten Buchläden verschiedener Richtungen und Maßstäbe. Besonderer Autorität erfreuten sich die (meist angestammten) Kenner des antiquarischen Buches. Die größten Buchläden veröffentlichten regulär gedruckte Kataloge. Auch Beschreibungen privater Bibliotheken wurden herausgegeben. In St. Petersburg erschienen in verschiedenen Jahren die Zeitschriften »Antiquar« und der »Russische Bibliophile«.
Die Ereignisse der Revolution von 1917 und der ihr folgende Bürgerkrieg wirkten sich auf die Bibliophilie aus. Einige Sammlungen, die ihren Eigentümer verloren hatten, wurden nationalisiert, andere geplündert und verstreut, wieder andere ins Ausland geschafft oder gingen zum Teil einfach zugrunde. Das Büchersammeln selbst sah in dem damals schweren und gefährlichen Leben wie eine unzeitgemäße Beschäftigung aus. Doch die Lage änderte sich infolge des zeitweise liberalisierten Lebens, das nach der Einführung der "Neuen ökonomischen Politik" einsetzte. Die Wiedergeburt privater Verlage sowie des privaten Buchhandels mit der ihnen eigenen freien Initiative, die Vielfalt der Interessen und die Orientierung an individuellen Anfragen schufen einen für die Sammeltätigkeit fruchtbaren Boden. Außerdem stimulierte die Blüte der russischen Buchgraphik in den 20er Jahren das Interesse für die Buchkunst. Es entstanden öffentliche bibliophile Organisationen, darunter solche großen, wie die Russische Gesellschaft für Bücherfreunde (in Moskau) und die Leningrader Gesellschaft der Bibliophilen. In Gang kam wieder die Ausgabe von Katalogen, es erschienen theoretische Arbeiten, die das Phänomen des Buchsammelns und die Liebe zum Buch gedanklich verarbeiteten. Der Kreis der Kollektionäre erneuerte sich erheblich, den überwiegenden Teil bildeten jetzt Wissenschaftler und Künstler.
Die Blütezeit hielt jedoch nicht lange an. Bereits an der Wende der 20er zu den 30er Jahren erlöschten eines nach dem anderen die privaten Unternehmen, da sie nicht mehr in der Lage waren, den harten politischen und ökonomischen Druck seitens des Regimes auszuhalten. Zu gleicher Zeit zerfielen auch die bibliophilen Vereinigungen. Die offiziell nicht verbotene und nicht verfolgte Bibliophilie trat jedoch nichtsdestoweniger in einen bestimmten Widerspruch mit der in den 30er bis 40er Jahren scharf wiederaufgenommenen Tendenz der Nivellierung der Gesellschaft im ganzen wie auch der einzelnen Persönlichkeit. Erst in der Mitte der 50er Jahre, mit dem Chrustschowschen "Tauwetter", begann ihre allmähliche Wiedergeburt. Es entstand die Gesellschaft der Bücherfreunde, und zweimal im Jahr erschien der »Almanach des Bücherfreundes«.
Die unter dem totalitären Regime verbrachten Jahrzehnte hatten sich auf den eigentlichen Charakter der Büchersammlungen in Rußland ausgewirkt. Nur einige der Kollektionäre konnten sich als echte Bibliophile im direkten Sinne des Wortes bezeichnen, die übrigen umgaben sich einfach mit Büchern, die für sie interessant und angenehm waren. Dabei orientierten sie sich auf die zeitgemäße Buchproduktion, insbesondere auf das Sammeln von Publikationen, die mit einem Einzelthema oder einem Buchgenre, wie Kinderbücher, Poesiebände und Miniaturbüchlein, verbunden waren.
Für solcherart Wandlungen gab es objektive Gründe. Einerseits verschlechterte sich in der Mehrheit die materielle Lage der Kollektionäre, die keine Möglichkeit hatten, echte Raritäten zu erwerben, und anderseits verarmte der Buchmarkt selbst. Ein bedeutender Teil der Raritäten gelangte in den Bestand der staatlichen Sammlungen und verblieb dort für immer. Das bezog sich sowohl auf das russische altgedruckte (umso mehr auf das handgeschriebene) wie auch auf das europäische altgedruckte Buch. Seltener wurden auch Bücher aus dem Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Die lange Isolierung der Sowjetunion erschwerte das Ansammeln von ausländischen Büchern aus dem Westen und dem Osten.
Was die gegenwärtigen Bucherscheinungen anbetrifft, so hat das lange Monopol der vom Regime streng kontrollierten und regulierten Verlage ihren Bestand vom Gesichtspunkt des Sammelinteresses ärmer gemacht. Bibliophile Bücher verschiedener Art werden praktisch nicht herausgebracht, vielleicht mit Ausnahme von Miniaturbüchlein. Im letzten Jahrzehnt, das vom Aufkommen einer großen Anzahl privater Verlage gekennzeichnet ist, hat sich in dieser Beziehung schon etwas geändert, und wir verfügen bereits über eine bedeutende Anzahl von Veröffentlichungen, die direkt für Kollek-tionäre bestimmt sind. Dazu gehört auch die weite Verbreitung des "selbstgefertigten künstlerischen Autorenbuches", das wiederum vorwiegend an die Kollektionäre adressiert ist. Doch die vergangene Zeit ist noch zu kurz für merkliche Wandlungen in solch einer konservativen und langsam sich formierenden Sache wie die Bibliophilie.
Das alles hier angeführte charakterisiert in direkter Beziehung die auf dieser Ausstellung gezeigten Buchpublikationen, die zum Umbruch in der russischen Geschichtsepoche unserer zehner bis zwanziger Jahre gehören.
Wir wissen nicht, inwieweit die russischen Futuristen, die aktiv an der Verlegertätigkeit teilgenommen haben, sich an dem Interesse des Kollektionärs orientiert haben. Womöglich hat sie das nicht besonders gekümmert, was wiederum aber nicht störte, daß ihre Ausgaben schnell zum Sammelobjekt wurden. Hierbei spielte auch die Ungewöhnlichkeit der manchmal sogar schockierenden Publikationen und selbstverständlich die geringe Auflagenhöhe, die sie zu Raritäten werden ließ, eine Rolle.
Das »Spiel in der Hölle« von Alexander Krutschonych und Welimir Chlebnikow, dessen zweite Ausgabe (1914) sich im Text von der ersten Ausgabe (1912), die Natalija Gontscha-rowa illustrierte, unterscheidet, ist nicht weniger bekannt als die erste. Das Buch ist ebenfalls durchweg lithographiert, einschließlich Text, und neu von der Hand des Alexander Krutschonych geschrieben. Die Umschlaggestaltung besorgte Kasimir Malewitsch (erste und letzte Seite). Er schuf auch drei Illustrationen, die übrigen 22 stammen von Olga Rosa-nowa.
Das »Lackierte Trikot« von Alexander Krutschonych (1919) gehört zur Zahl der Bücher, die in den Jahren 1918 bis 1920 in Tiflis von dem bekannten Verlag »41°« herausgegeben worden sind. Das ist eine von zwei Varianten des Buches (die zweite Variante ist hektographiert). Diese Buchpublikation ist ein markantes Beispiel dafür, wie die russischen Avantgardisten seit 1914 mit der Typographie experimentierten (Ausgaben von Wassili Kamenski). Bemerkenswert ist hierbei die nicht traditionelle Betonung des Gedichttextes, und insbesondere der Zweifarbendruck des Umschlags mit nur einer Druckform, die beim zweiten Auftrag in Beziehung zum ersten unter einem Winkel von etwa 41° gekehrt ist.
Der Sammelband »Union der Jugend« ist von der gleichnamigen Künstlervereinigung der Petersburger Avantgardisten (1910-1913, 1917) herausgegeben worden. Seine dritte und letzte Ausgabe, die gemeinsam mit der Dichtergruppe »Hylea« verwirklicht wurde, enthält Gedichte, Aufsätze und Essays. Der Umschlag und die fünf Illustrationen stammen von I. Schkolnik und sechs weitere Illustrationen von Olga Rosanowa (sie sind in der Lithographie-Technik gedruckt).
Der Almanach »Strelez« ist durch die zweite Ausgabe von drei veröffentlichten vertreten (1915, 1916, 1922). Der Al-manach war das Produkt einer ziemlich exotischen Vereinigung der Symbolisten mit den Futuristen. Daraus erklärt sich die bunte Zusammensetzung der Autoren, zu denen einerseits Michail Kusmin, Wassili Rosanow, Fjodor Sologub und anderseits Nikolai Kulbin, Wladimir Majakowski und Welimir Chlebnikow gehörten. Die äußere Aufmachung des Almanachs war überwiegend von den Futuristen beeinflußt. Das Zeichen gestaltete David Burljuk, und die einzige Reproduktion war einer Arbeit von Nikolai Kulbin entnommen.
Von Interesse ist die Monographie von Eli Eganbjury (Pseudonym des 19-jährigen Ilja Sdanewitsch, der später unter dem Namen Iliasd Kunstausgaben in Frankreich herausgab), da hier erstmalig das Schaffen von Natalija Gontscharowa und Michail Larionow monographisch untersucht wird. Diese in geringer Auflagenhöhe erschienene Buchpublikation (525 Exemplare, von denen 25 auf qualitätsmäßig besserem Papier gedruckt sind und handkolorierte Lithographiedrucke vom Autor aufweisen) muß zu den Raritäten gezählt werden. Zu einer Seltenheit ist auch schon längst der Katalog von der Personalausstellung der Natalija Gontscharowa geworden, der 1914 in St. Petersburg erschienen ist. Aufmerksamkeit verdient ebenfalls das Buch »Kandinsky«, eine Art Automonographie und eine im Vordergrund stehende Erforschung der schöpferischen Tätigkeit des hervorragenden Meisters des 20. Jahrhunderts. Es erschien 1918, ist jedoch bereits 1917 in alter Orthographie (reformiert nach der Revolution) gesetzt und zu einem symbolischen Trennungszeichen zwischen zwei historischen Epochen geworden.
Die von den Avantgardisten herausgegebenen Bücher, ebenso wie die ihnen gewidmeten, standen mit ihrer demonstrativ hervorgekehrten Demokratie, mit ihrem mitunter sogar grobem Aussehen dem bisher in Rußland sich herausgebildeten buchkünstlerischen Typus mit seiner prächtigen und erlesenen Gestaltung und seiner makellosen polygraphischen Qualität gegenüber. Das Buch von S. Makowski und N. Radlow »Der moderne Buchschmuck in Rußland«, erschien 1914 in Deutsch (gedruckt auf Verfügung des Generalkommissars der russischen Abteilung auf der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik zu Leipzig) und charakterisiert ausgezeichnet diesen Buchtypus: Es ist ein beeindruckender Band, gestaltet von Sergej Tschechonin, einem der besten Vertreter jener Graphik, über die in diesem Buch die Rede ist, das in der besten Druckerei des Landes entstanden und für das hochwertiges und mit viel Geschmack zusammengestelltes Material verwendet worden ist. Zum gleichen Typus gehört auch das zwei Jahre später veröffentlichte Buch der Jelisaweta Kruglikowa »Paris am Vorabend des Krieges«, eine Art lyrische Reportage der Künstlerin, die sich um die erfolg-reiche Wiedergeburt der Monotypie-Kunst und der Silhouette verdient gemacht hat. Dieses Buch ist eine der präch-tigsten Publikationen aus der vorrevolutionären Zeit. Der erlesene Leineneinband und die dekorative Gestaltung der Hülle war unverkennbar auf den Geschmack des Buchfreun-des für ausgesuchte Buchausgaben ausgerichtet.
In der Verlegerpraxis Ende der zehner und Anfang der zwanziger Jahre lebten beide Buchformen - die auserlesene und die betont schlichte - nebeneinander weiter fort, manchmal beeinflußten sie einander. Zwei Bücher des Künstlers Boris Grigorjew »Rasseja« und »Intimité«, 1918 erschienen, löst bei einen Teil des damaligen Publikums einen Schock aus. Das erste Buch durch die scharfe, nicht idealisierte Darstellung des Lebens in der russischen Provinz, das zweite Buch durch seine raffinierte Erotik. Heute fällt es uns allerdings schwer, diese Beanstandungen zu teilen. Beide Publikationen sind einander sehr nahe. Beide sind "Buchalben", aufgebaut auf freier Zusammenwirkung von Text und Reproduktion, die dem Künstler selbst gewidmet sind. Beide waren auf den Bibliophilen orientiert, wovon ihre Auflagenhöhe von 750 nummerierten Exemplaren (50 davon haben eine selbständige Nummerierung) und 1000 Exemplaren spricht. Doch in der etwas gelockerten Komposition ist der Einfluß futuristischer Publikationen spürbar. Das bezieht sich besonders auf das erste Buch. Hier finden sich alle Reproduktionen auf Einzelblättern aus echter Tapete, und sogar der Einband ist mit Tapete bezogen. In der Folgezeit wird »Rasseja« zweimal in Berlin (1922, 1923) wiederverlegt. Diesen Büchern im Charakter ähnlich ist die Publikation von Juri Annenkow »Porträts« (1922), in dem die dem Künstler gewidmeten Texte mit seinen Porträtarbeiten abwechseln, die eine ganze Galerie von damaligen Persönlichkeiten bilden.
In ihrer Genrezugehörigkeit klarer und ähnlich ihrer Entstehung nach sind die Buchpublikationen »Versailles« (1922) von Alexander Benois und »Turkestan« (1923) von Pawel Kusnezow. In beiden Fällen verbindet sie die Form des Albums, in der die Künstler ihre Eindrücke synthesieren. Benois berichtet von seinen langjährigen Beobachtungen in Versailles, Kusnezow von seiner vor zehn Jahren gemachten Reise durch Turkestan (Territorium des heutigen Usbekistans). Beide Ausgaben nähern sich dem verbreiteten Typus des livre d'art, der in den 20er Jahren seine Verehrer in Rußland gefunden hatte. Ihnen verwandt ist das Buch von Kusma Petrow-Wodkin »Samarkandia« (1923), in dem der namhafte russische Künstler von seiner Reise in die alte mittelasiatische Stadt Samarkand erzählt und den Text mit brillanten Zeichnungen ausschmückt.
»Versailles« und »Samarkandia« wurden von dem Verlag »Akwilon« (Petrograd, 1921-1924) herausgegeben, den der bekannte Kunstwissenschaftler und Kollektionär F. Notgaft geschaffen hatte. Gerade diesem Verlag gehört der Vorrang unter den illustrierten Büchern auf dieser Ausstellung. Sie zeigen die Zeichnungen der besten Graphiker Anfang des 20. Jahrhunderts, die sich in der Gesellschaft »Welt der Kunst« vereint hatten: Mstislaw Dobuschinski - »Der Toupetkünstler« von Nikolai Leskow (1922) und »Weiße Nächte« von Fjodor Dostojewski (1923), Boris Kustodijew - »Sechs Gedichte« von N. A. Nekrassow (1922), »Der Flickschneider« von Nikolai Leskow (1922) und »Rus. Russische Typen von B. M. Kustodijew« (1923). Diese Reihe ergänzt glänzend der »Eherne Reiter« von Alexander Puschkin mit Illustrationen von Alexander Benois, herausgegeben vom Komitee für die Verbreitung von Kunstbüchern (1923). Eine Vorstellung von der Richtung der weiteren Evolution der Petersburger Buchgraphik gibt uns die bekannte Edition »Die Zwölf« von Alexander Blok (1918) mit Illustrationen von Juri Annenkow. Weniger vollständig vorgestellt ist die Buchgraphik anderer russischer Kunstzentren, so z. B. Moskau mit seiner eigenen, spezifischen Tradition. Darunter zwei Bücher mit Gravüren des namhaften Künstlers Wladimir Faworski - »Das Kaffeehaus« von Pawel Muratow (1922) und »Masken und Gesichter« von Robert de la Sizeranne (1923) sowie das Buch des glänzenden Holzstechers der Moskauer Schule Andrej Krawtschenko - »Das Porträt« von Nikolai Gogol (1928).
Fast alle in dieser Ausstellung vorgestellten Publikationen über die darstellende Kunst tragen monographischen Charakter. Das Buch von Nikolai Punin »Tatlin« hebt sich unter ihnen sowohl inhaltlich (es ist im Grunde genommen eine theoretische Begründung der postkubistischen Richtung in der Malerei und keine Untersuchung des schöpferischen Werkes Tatlins) wie auch durch sein asketisches Aussehen hervor. Ihm verwandt sind einige Bücher, die Ende des gleichen Jahrzehnts erschienen und längst zur buchkünstleri-schen Seltenheit geworden sind. Hierzu gehören die Ausstellungskataloge von Alexej Karew (1927) und von Wladimir Lebedew (1928) sowie die Arbeit von Nikolai Punin »Neueste Strömungen in der russischen Kunst« in zwei Ausgaben (1927, 1928), die alle vom Russischen Museum herausgegeben worden sind. Eine weitere Publikation des gleichen Autors - »Wladimir Wassiljewitsch Lebedew« (1928) - ist vom Komitee für die Verbreitung von Kunstbüchern veröffentlicht worden.
Die übrigen Kunstbücher sind Varianten des traditionellen Monographie-Typus, daß heißt sie sind sorgfältig vorbereitet, polygraphisch erstklassig, haben genügend großes Format, zeigen eine Fülle von Reproduktionen und sind mit einem notwendigen Nachschlageapparat versehen. Ein Buch von von A. Efros und J. Tugendhold verdient hier besondere Aufmerksamkeit: »Die Kunst Marc Chagalls« (1918, 850 nummerierte Exemplare; es gibt auch die deutsche Variante von 1921). Das ist das erste Buch über den großen Künstler. Andere Publikationen sind den Meistern der Gesellschaft »Welt der Kunst« gewidmet, die es geschafft hatten, die Autorität und Anerkennung des Buchfreundes zu gewinnen. Das sind zwei sich gut ergänzende Bücher »Zeichnungen von M. Dobuschinski« von E. Gollerbach (1923) und die »Graphik von Dobuschinski« von S. Makowski und F. Notgaft (1924; ein ausgzeichnetes Beispiel für die qualitätsmäßig hohe Herausgabe jener Zeit); ebenfalls »B. Kustodijew« von W. Wojnow (1926), »Tschechonin« von N. Punin und A. Efros (1924; französische Varianten der ersten Ausgabe von 1923), »D. I. Mitrochin« von M. Kusmin und W. Wojnow (1928; deutsche Variante).
Ein wichtiges Merkmal jener Epoche waren die höchst spezifischen Buchpublikationen, die kritischen, "enthüllenden" war das professionelle Organ der Fotokünstler (1926-1931; 1934-1991. In den letzten Jahren hieß es "Fotografie"). "Die UdSSR im Aufbau" (1932, Nr. 11; 1933, Nr. 9) war eine illustrierte Zeitschrift (1930-1949; in den letzten Jahren hieß sie "Sowjetunion" und diente zur Propagandierung der Errungenschaften der sozialistischen Staatsform, sie wurde in Russisch, Deutsch, Französisch und Englisch herausgegeben. Jede Nummer behandelte ein selbständiges Thema. Mitarbeiter an der Zeitschrift waren in der Regel die besten sowjetischen Fotografen und graphischen Designer, so z.B. war die Nummer 9 für 1933 von El Lissizki projektiert worden.
Der Betrachter dieser Ausstellung muß verstehen, daß die Privatsammlung, aus der diese Exponate stammen, den Geschmack und die Interessen seines Eigentümers Michail Karasik, eines bekannten Vertreters der heutigen Petersburger Graphik, widerspiegeln. Ebenso sind die Besonderheiten des Ortes ihrer Entstehung, der Stadt St. Petersburg, zu berücksichtigen, und der Zeitabschnitt, in dem sie sich formierte (Mitte der 70er bis Ende der 80er Jahre). Die Ausstellung ist bewußt nicht vollständig angelegt. Doch scheint sie dazu befähigt, dem Publikum die festgesetzte Vorstellung vom Charakter des Buchsammelns im heutigen Rußland zu erweitern und klarer zu präzisieren.