leipzigart  KUNSTJOURNAL


Europa als Frachtgut

Ausflugziel Kulturhauptstadt c/o ACC-Galerie Weimar

Kunst in Kästen, kunstvolle Kistchen - das ist ein Thema, das seit ägyptischen Grabbeigaben, seit asiatischen Schreinen und Reliquiengefäßen die Kulturgeschichte durchzieht.

Mit dem spannenden Augenblick vor der Öffnung eines Behälters, mit der Abgeschlossenheit einer Welt im Kleinen spielten auch Kastenbilder der Surrealisten und später der Fluxus-Künstler.

Marcel Duchamp hat zeitig das Medium der Box entdeckt, schon vor seinem privaten Einpersonen-Museum, dem Multiple »Schachtel im Koffer«, der verträumte Amerikaner Joseph Cornell entwarf Zauberwelten in verglasten Vitrinchen, selbst André Breton versuchte sich an derlei Miniaturen, Oberfluxist George Maciunas schachtelte und auch Joseph Beuys konnte sich der Kiste nicht erwehren. Tatsächlich, wenn alles zu entgleiten droht, einschließlich dem Kunstbegriff, bieten vier Wände, Boden, eventuell Deckel eine formale Sicherheit, die nicht zu unterschätzen ist. Das hat sich auch Henrik Schrat gedacht, der Künstler, der hier als Kurator gleich einen ganzen Kontinent in die Box verbannte. »Europe in the Box« nämlich heißt das Langzeitprojekt, das hier in Weimar in die zweite Runde ging. Ganz systematisch schickten er und seine Komplizin Christine Brühl je eine/n KünstlerIn aus einer der 15 Kulturhauptstädte Europas auf die Reise in die jeweils nächste. Bei der Anreise hatten sie eine leere Frachtkiste im Gepäck, 60x60x60 cm, und beim Abschied sollte diese gefüllt sein - mit Kunst natürlich und inspiriert vom Ort des Aufenthaltes: Lissabon oder Florenz oder Kopenhagen oder...

Begonnen hatte alles 1985 in Athen, als die damalige griechische Kultusministerin, Melina Mercouri, die Idee der Kulturhauptstädte ersann und umsetzte. Und so nimmt es auch nicht wunder, dass die Weimarer Künstlerin Marianne Buttstädt ihre Kiste, die »Weimarbox« in einen schlichten Altar umwandelte - für jene schöne Tochter Athenas, die als Aktrice und Sängerin mindestens so bekannt war wie als Kulturpolitikerin. Mit einer Art augenzwinkerndem Lehrpfad werden die einzelnen Behälter verbunden. Derart und im Verbund mit der formalen Klammer dieses Mediums (das hin und wieder, wie ein Déjà vu an Donald Judds Sperrholz-Boxen erinnert) gewinnt »Europe in the Box« an Überzeugungskraft. Immerhin fanden sich hier 15 höchst verschiedene Charaktere und Ansätze zusammen; eine Situation, wo das Spagat zwischen Installation, konzeptueller Photographie, Dienstleistungs- oder Objektkunst, Spurensicherung etc. sehr leicht hätte im Bänderriss enden können.

Nichts dergleichen: Alexandros Psychoulis (Athen) klappte seine »Florencebox zum Kruzifix auf und hieß Pinocchios Nase Nagel im Wundmal sein. Arnoldo Marinai (Florenz) erinnerte an das Amsterdamer El Al-Flugzeugunglück mit einer ernsten Blackbox (Wer sagt, dass Monumente riesig sein müssen?). Michael Fullerton aus Glasgow reiste zum ersten Mal in seinem Leben nach Irland und brachte in der »Dublinbox als Zeugnis unentwirrbare Tonbandschleifen mit. Ulrike Flaig (Berlin) erinnerte sich ausgerechnet in Paris an den fossilen sozialistischen Ritus des »Bruderkusses«, und so entragen ihrem Kasten zwei Plastiktüten, in einen solchen versunken. Am äußersten Ende des Untersuchungsgebietes fand sich Philip Huyghe (Antwerpen) ein und so liegen in seiner »Lisbonbox« auch farbige Postkarten zum Mitnehmen: vom nicht endenden Balkon Europas blicken wir in Richtung »Neue Welt«. Fast jede Arbeit öffnet einen faszinierenden Mikrokosmos und zeigt die Wunderkammer des Erdteils in seltsam anthropologischer und zeitgemäßer Breite. Jederzeit, ob einfach Deckel zu oder mit Scharnieren zurückgeklappt, können sich die 15 universalen Würfel wieder in den Frachtbauch des Flugzeuges begeben und anderswo auftauchen. Nächste Station wird Plovdiv (Bulgarien) sein: ein leiser Hinweis in Richtung Balkan - Europa ist groß.

Und, O Wanderer, führt dich dein Weg nach Weimar (was in diesem Jahr unbedingt der Fall sein sollte, nicht nur wegen des digitalen Gartenhaus-Imitates und der der Paul-Maenzschen Arte Povera); führt dich dein Weg jedenfalls nach Weimar, so scheue nicht noch den kurzen Fußmarsch von Florenz nach Stockholm, über Thessaloniki.

Susanne Altmann

ACC Galerie Weimar, Burgplatz, bis 6. Juni, Katalog

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